Typische Intensivtäterkarrieren

Die meisten der zur Zeit etwa 550 Intensivtäter, die bei der Berliner Staatsanwaltschaft registriert sind, wohnen und „wirken" in Neukölln. Es sind gegenwärtig 214. Zur Erinnerung: Als Intensivtäter werden nur Personen bezeichnet, die innerhalb eines Jahres mindestens zehn erhebliche Delikte begangen haben. Diejenigen, die also knapp unterhalb dieser Grenze liegen, werden zwar als Mehrfachtäter angesehen, finden jedoch in der Intensivtäterstatistik keine Berücksichtigung. Schwerkriminelle, die häufig 30 und mehr erhebliche Taten aufweisen, haben zu etwa 90 Prozent einen Migrationshintergrund, 45 Prozent sind „arabischer" Herkunft, 34 Prozent haben türkische Wurzeln. Diese Tatsachen sind insofern von Bedeutung, als etwa 10.000 „Araber" in Neukölln leben, aber mehr als viermal so viele türkischstämmige Menschen. Die „Araber" stellen also gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil mit weitem Abstand die Mehrheit der Intensivtäter. Deutsche Vielfachtäter gibt es in Neukölln kaum. Auch außerhalb des Bezirkes spielen sie quantitativ keine nennenswerte Rolle.

Die Leser haben mit Yilmaz, Hussein und Kaan bereits Intensivtäter kennengelernt. Deren Geschichte ist jeweils unabhängig von der Größe ihrer Familie. Mehrere Besonderheiten, die in ihren Lebensläufen zum Ausdruck kommen, kennzeichnen auch andere Lebensläufe, wobei es hier vornehmlich um Familien geht, aus denen zahlreiche Mehrfachtäter hervorgehen.

Die Jugendlichen entstammen den vor vielen Jahren aus dem Libanon oder der Türkei zugewanderten Familien mit sechs Kindern und mehr. Viele Einwanderer haben inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit, und die meisten leben vom Kindergeld und staatlichen Transferleistungen. Die Mütter haben nie Deutsch gelernt. Sie überlassen speziell die Jungen schon früh sich selbst, wobei dies nicht auf mangelnde Fürsorge, sondern mehr auf eine kulturelle Tradition zurückzuführen ist. Söhne sind kleine Männer und stehen deshalb über den Töchtern. Diese werden einer starken Kontrolle unterzogen, die zum Teil auch durch die Brüder ausgeübt wird. Die Mädchen sind manchmal sehr klug und nutzen ihre Zeit daheim sinnvoll, um zu lernen. Sie überflügeln ihre Brüder zunehmend bei den schulischen Leistungen, was die Jungen nicht zufriedener macht. Hinzu kommt, dass den Jungen die Identifikationsfigur des arbeitenden Vaters abhandengekommen ist. Dieser Umstand geht mit einem entsprechenden Autoritätsverlust einher und lässt die Söhne zunehmend die Orientierung verlieren. Während die Töchter oft sehr erfolgreich versuchen, eine Qualifikation für den ersten Arbeitsmarkt zu erlangen, und dabei hoffen müssen, nicht verheiratet zu werden, treiben sich die Brüder im Kiez herum, während die Mutter sie irgendwo im inzwischen weitverzweigten Verwandtschaftskreis wähnt und der Vater im Teehaus sitzt. Es kommt zu ersten Straftaten, die überwiegend aus der Gruppe heraus begangen werden. So abstrakt hört sich das zunächst harmlos an. Aus der Opferperspektive sieht es jedoch anders aus, wenn man mit einem Schlagring, einem Gürtel oder mit einer Eisenstange zusammengeschlagen wird, weil man einen Araber angeblich zu lange angeschaut hat. Oder wenn eine alte Dame zu später Abendstunde um etwas Ruhe bittet und dann von drei „Arabern" ins Gesicht geschlagen wird. Oder wenn der Polizeibeamte, der eine Anzeige aufnehmen muss, weil die Jugendlichen einen Zeitungsständer angezündet haben, zu hören bekommt: „Ich scheiß' auf Deutschland. Du bist Dreck unter meinen Schuhen. Du bist tot." Oder wenn ein Lehrer im Rahmen seiner Pausenaufsicht einen schulfremden Jugendlichen des Hofes verweist und dieser dem Lehrer mit den Fäusten in das Gesicht schlägt und mit den Füßen in den Unterleib tritt.

Das sind nur einige „Einstiegstaten" der Intensivtäter, die zu diesem Zeitpunkt oft noch nicht strafmündig sind - ebenso wie bei Yilmaz, Hussein und Kaan, die ähnliche Vorgeschichten aufweisen. Was geschieht daraufhin? Die Leser kennen das schon, auch von der Geschichte der Lehmanns. Manchmal wird seitens des Jugendamtes eine Familienhilfe eingerichtet. Wegen der Größe der Familien werden mitunter bis zu drei Sozialarbeiter benötigt, die aus unterschiedlichen Projekten der Jugendhilfe kommen können. Häufig werden die Bemühungen der Helfer von den Familien abgelehnt bzw. ihre Mitwirkung unterbleibt schlicht. Im weiteren Verlauf geschieht dann staatlicherseits oftmals nicht mehr viel, wenn man davon absieht, dass sich die bereits mehrfach erwähnten Schulwechsel bei den Kindern aneinanderreihen. Ich habe immer wieder den Eindruck, die Schulen werfen die Jugendlichen einander zu wie heiße Kartoffeln. Sie beklagen, sie seien nicht in der Lage, mit Kindern aus diesen Familien umzugehen. Auch gegenüber der Schule träten die Eltern entweder gar nicht oder fordernd auf, ohne sich selbst in irgendeiner Weise einzubringen. Das Jugendamt sei hier gefragt. Seitens des Jugendamtes höre ich hingegen, die Schulen müssten reagieren. Ich habe den Eindruck, bei allen Beteiligten schwingt Angst mit, die durch die mangelnde Zusammenarbeit noch verstärkt wird. Das scheint nicht nur in Berlin so zu sein. So rief mich einmal ein Jugendamtsleiter aus Norddeutschland an und schilderte, dass sich seine Mitarbeiter im Büro einschließen, wenn eine kinderreiche Familie mit Migrationshintergrund „anrückt".

Die „kleinen Prinzen" machen währenddessen weiter, was sie wollen, und bewegen sich zusätzlich in einem Umfeld anderer Kinder und Jugendlicher, die wie sie ohne jede Struktur in den Tag hineinleben. Auf diese Weise kann ich es mir inzwischen auch erklären, weshalb ich manchmal Angeklagte vor mir habe, die nur mit großer Mühe ihren Vornamen kritzeln können. Irgendwann scheinen die beteiligten Behörden dann erschöpft darauf zu spekulieren, dass die Jungen vierzehn Jahre alt werden. Ich vernahm schon den einen oder anderen Seufzer: „Na, der ist ja bald strafmündig und dann endlich ein Fall für die Justiz."

Nachdem nun endlich die magische Grenze von vierzehn überschritten ist, können die Täter vor das Jugendgericht gebracht werden. Inzwischen haben sie es auf einige Diebstähle, Körperverletzungen und Raubüberfalle gebracht. Mehrere ältere männliche Geschwister sitzen bereits in der Strafanstalt. Da viele Kollegen bei den jüngeren „Nachrückern" nicht als erste jugendrichterliche Maßnahme eine Jugendstrafe verhängen möchten, kommt es häufig zur Anordnung von Anti-Gewalt-Maßnahmen und mehrwöchigen Dauerarresten. Bis diese Weisung umgesetzt bzw. der Arrest vollstreckt ist, vergehen erneut einige Monate. Zeitgleich versucht das Jugendamt weiter, mit unterstützenden Angeboten zu agieren. In einem Intensivtäterverfahren wartete der 15-jährige Verurteilte nicht lange ab, sondern beging noch am Tage seiner Verurteilung wegen Diebstahls eine erneute Straftat. Er ging mit mehreren Kumpeln ins Schwimmbad. Dort sollte er einem Security-Mitarbeiter seine Eintrittskarte vorzeigen, nachdem er einige Mädchen belästigt hatte. Dazu hatte er aber keine Lust und wurde deshalb des Bades verwiesen. Er beschloss daraufhin mit den Freunden, dem Kontrolleur aufzulauern und ihn bei sich bietender Gelegenheit tätlich zu attackieren. Einer seiner Begleiter sollte dies mit dem Handy filmen. Als der Security-Mann das Bad verließ, verwickelten die Täter ihn in ein Gespräch, auf das dieser freundlich einging. Kurz bevor er sich entfernen wollte, schlug nun der frisch Verurteilte dem Mann mit der Faust wuchtig in das Gesicht, sodass dessen Brille zerbrach und er diverse Augen- und Gesichtsverletzungen davontrug und für kurze Zeit besinnungslos war. Nachdem der Kumpel das Geschehen filmisch dokumentiert hatte, rannten alle Beteiligten lauthals lachend davon.

Während der Untersuchungshaft stellte sich nun heraus, dass der Angeklagte bereits vor dem Vorfall im Schwimmbad eine weitere erhebliche Straftat begangen hatte. Er überfiel maskiert und unter Mitführung mehrerer Waffen, u.a. einer Schreckschusspistole, die für das Opfer nicht von einer echten Schusswaffe zu unterscheiden war, gemeinsam mit zwei ebenfalls gerade strafmündigen guten Bekannten eine Drogeriefiliale. Dem männlichen Angestellten wurde die Waffe gegen die Schläfe gedrückt. Das angstverzerrte Gesicht des Mannes ist auf dem Video der Überwachungskamera deutlich zu sehen und erschüttert auch hartgesottene Richterinnen, die ehrenamtlichen Schöffen natürlich erst recht. Die Teilnahme des Angeklagten an dieser Tat, bei der einige Hundert Euro erbeutet wurden, wird erst später durch ein Geständnis eines Mittäters offengelegt.

Wegen sämtlicher Taten erhält der Angeklagte mit Rücksicht auf sein sehr jugendliches Alter und angesichts der Tatsache, dass er bereits viele Monate in Untersuchungshaft gesessen hat, eine aus meiner Sicht maßvolle Jugendstrafe von unter vier Jahren. Für einen Erwachsenen sieht das StGB allein für einen schweren Raub unter Verwendung von Waffen eine Mindeststrafe von fünf Jahren vor.

Ich verzichte darauf, noch schlimmere Gewaltdelikte zu schildern, obwohl dies ohne Weiteres möglich wäre. Ich denke, es ist jedem Leser bereits deutlich geworden, dass viele Täter sehr früh mit der Begehung von Straftaten beginnen und sich von Anfang an jeder Einflussnahme entziehen. Lehrerinnen und Lehrer, Jugendamtsoder Projektmitarbeiter, Polizeibeamte und -beamtinnen, Justizvollzugsbedienstete, ganz normale erwachsene Mitmenschen und die Justiz sind nicht in der Lage, die im Elternhaus von vornherein unterbliebene Grenzsetzung aufzufangen.

Woher rührt dieses Phänomen bei einigen sehr kinderreichen Zuwandererfamilien aus dem türkischen, aber noch stärker aus dem arabischen Raum? Üblicherweise werden soziale Ursachen angeführt. Diese sind mit Sicherheit in gleicher Weise „kriminogen" wie bei den Lehmanns oder bei John. Darüber hinaus ist immer wieder davon die Rede, die eingewanderten Menschen litten teilweise unter Flüchtlingstraumata. „Meine" Angeklagten sind allerdings überwiegend in Deutschland geboren und haben deshalb keine Traumatisierung erlebt.

Das in diesem Zusammenhang nahezu reflexartig vorgebrachte weitere Argument von „vierzig Jahren verfehlter Integrationspolitik" verfängt allmählich nicht mehr. Natürlich gab es hier Versäumnisse. Als die erste „Gastarbeitergeneration" entgegen der allgemeinen Erwartung nicht in die Heimat zurückkehrte, hätte ein Integrationskonzept entwickelt werden können. Besonders in der Schulpolitik hätte die Bildung reiner „Türkenklassen" verhindert werden müssen. Eine vernünftige Strategie hätte neben Integrationskursen aber auch den verpflichtenden Erwerb der deutschen Sprache regeln sollen. Integration ist ein Vertrag auf Gegenseitigkeit. Wer hierfür plädierte, wurde jedoch schnell der „Zwangsgermanisierung" bezichtigt. Wer mahnte, dass es nicht förderlich sei, die Ballung von Zuwanderergruppen in bestimmten Bezirken zuzulassen, stand ebenfalls gleich in der „rechten Ecke". So zauderten sich die Regierungen, egal welcher Couleur, von einer Legislaturperiode in die nächste. „Bloß keine heißen Eisen anfassen" schien die Devise zu sein.

Bezogen auf die Einwanderer selbst sollte die Frage erlaubt sein, weshalb es ihnen teilweise selbst kein Bedürfnis ist, die Sprache der sie aufnehmenden Gesellschaft zu erlernen und sich mit den hier herrschenden Gepflogenheiten und Gesetzen vertraut zu machen. An diesem Punkt der Diskussion fallt dann üblicherweise das nächste Schlagwort: Die Menschen stammten aus „bildungsfernen" Ländern oder Landesteilen. Was bedeutet das denn? Mir ist der Unterschied zwischen Zuwanderern aus Ostanatolien, das als bildungsfern gilt, und denjenigen aus der Westtürkei geläufig, da ich es in meiner „Vörortarbeit" in Neukölln sehr häufig mit gebildeten türkischstämmigen Mitbürgern aus der westlichen Region des Landes zu tun habe, während „meine" Angeklagten einen kurdischen, ost-anatolischen oder angeblich palästinensischen Migrationshintergrund aufweisen. Die integrierten Westtürken haben überhaupt kein Verständnis dafür, dass der deutsche Staat den Zuwanderern aus den östlichen Regionen nichts abverlangt. Sie sagen, viele dieser Menschen seien einfach strukturiert. Man müsse ihnen deutlich machen, was von ihnen erwartet wird. Ähnlich äußern sich Zuwanderer aus dem Libanon zu den „arabischen" Großfamilien, denen ich noch ein gesondertes Kapitel widmen werde. Diese Einschätzung entspricht im Übrigen meiner Wahrnehmung, wenn ich immer noch, und zwar tendenziell eher zu- als abnehmend, Eltern treffe, die nach über zwanzigjährigem Aufenthalt in Deutschland die Sprache nicht einmal ansatzweise beherrschen. Es ist ja inzwischen auch kaum mehr nötig. Überall wird übersetzt, Aushänge sind in arabischer und türkischer Sprache zahlreich vorhanden, in den Schulen fangen die deutschen Kinder an, Türkisch zu lernen.

Ich halte die erste „Gastarbeitergeneration", nebenbei bemerkt, für durchaus integrierter als die zweite und dritte Generation. Der Grund liegt auf der Hand: Sie stellten eine Minderheit dar und hatten Arbeit. Da folgt die Integration aus den Lebensumständen. Deswegen wäre es wichtig gewesen, die Bevölkerung in den Stadtteilen zu mischen und Massenarbeitslosigkeit bei Zuwanderern zu verhindern. Wenn die Eltern arbeiten, hat der Tag eine Struktur, die die Kinder übernehmen, was sich positiv auf ihre Entwicklung auswirkt. Deshalb muss der Staat Arbeit anbieten. Ich bin keine Arbeitsmarktexpertin, jedoch vernehme ich von den Jobcentern, dass die „arbeitsmarktrelevante Qualifikation" vieler Menschen inzwischen nicht mehr hinreichend gegeben sei, nachdem rein körperliche Tätigkeiten in nennenswertem Umfang nicht angeboten werden können. Die Zeiten haben sich eben geändert. Dieser Tatsache müssen sich alle Menschen stellen, was uns zwangsläufig zum Thema Schulbildung führen wird.

Ein persönliches Erlebnis möchte ich an dieser Stelle einflechten. Ich habe einen sehr schönen Teil meiner Kindheit in Berlin verbracht. Wir lebten Anfang der siebziger Jahre im Wedding, einem damals beschaulichen Arbeiterkiez. Heute stellt sich die Kriminalität in Teilen dieses Bezirks schlimmer dar als in Neukölln. Ich kam in der zweiten Klasse vom Rhein an die Spree und wurde von meinen neuen Mitschülern bereits aufgrund meiner merkwürdigen Aussprache ziemlich begafft. Kurz nach mir wurde der erste türkische Junge an der Schule aufgenommen. Er kam in meine Klasse. Tayfun hatte es schwerer als ich, da er gar kein Deutsch sprach und zudem noch eine dunkle Gesichtsfarbe hatte. Tayfuns Eltern waren Arbeiter aus Ostanatolien. Trotz geringer eigener Bildung war ihnen klar, dass ihr Sohn in der Schule vorankommen musste. Meine Lehrerin erkannte das Potenzial ihrer beiden „Zuwanderer". Obwohl ich „dat" und „wat" sagte, gefielen ihr meine Aufsätze und sie bat mich, gelegentlich mit Tayfun gemeinsam die Hausaufgaben zu erledigen. Das haben wir eine Zeit lang auch gemacht. Das Kind lernte innerhalb eines halben Jahres Deutsch, was mehr seinem Ehrgeiz als meinen pädagogischen Fähigkeiten geschuldet war. Tayfun und ich waren jedenfalls am Ende des Schuljahres keine „Zootiere" mehr.

Auch in der ehemaligen DDR gab es im Übrigen in den achtziger Jahren Einwanderer der ersten Generation, die als Vertragsarbeiter angeworben wurden. Es handelte sich um Vietnamesen aus einfachsten Verhältnissen. Nach der Wende verloren sie ihre Arbeit und mussten sich irgendwie durchschlagen. Sie leben heute überwiegend in bescheidenen Verhältnissen im Ostteil Berlins. Dort betreiben sie kleine Blumenläden, Billigbekleidungsgeschäfte und jede Menge Imbisse an den S-Bahnhöfen. Was ist aus ihren Kindern geworden? Strebsame Schülerinnen und Schüler, die z.B. auf dem Barnim-Gymnasium in Berlin-Lichtenberg in den unteren Klassen 30 Prozent der Schüler stellen. Sie erzielen im Durchschnitt bessere Erfolge als deutsche Schüler. Warum ist das so? Weil Bildung in Asien etwas bedeutet? Mir scheint, dass die Eltern aus diesem Kulturkreis keine grundsätzliche Anspruchshaltung gegenüber dem Staat haben, der für „bessere Schulen" sorgen soll. Sie verlangten sich selbst etwas ab, damit die Kinder es einmal „zu etwas bringen".

Es gibt zudem in Deutschland zugewanderte Menschen, die nie vorhatten, sich einzufügen, sondern schon immer in einer parallelen, in einigen Fällen rein kriminell ausgerichteten Struktur gelebt haben und aus meiner Sicht weitgehend beabsichtigen, damit fortzufahren.

 

Einige »libanesische« Großfamilien

Bereits im Jahr 2003 fertigte ein Mitarbeiter des LKA eine bemerkenswerte Studie über diese Einwanderergruppe an. Die Untersuchung heißt: „Importierte Kriminalität und deren Etablierung". Der Verfasser zeigt auf, dass es sich bei den sogenannten „staatenlosen Palästinensern" meist nicht um Libanesen, die ebenfalls in Deutschland leben und eine große Bereicherung darstellen, handelt, sondern um „libanesische Kurden" aus den Grenzgebieten der Türkei und Syriens. Diese hatten sich mit ihren Großfamilien in mehreren Fluchtwellen in den dreißiger und sechziger Jahren in den Libanon begeben. Der Libanon hat diese Menschen ganz überwiegend nicht eingebürgert. Im Prinzip lebten sie bereits dort illegal. Die Familien erhielten zum Teil sogenannte „Laissezpasser"-Papiere. Damit konnten sie ausreisen, was auch erwünscht war. Jedoch verloren die Dokumente ein Jahr nach Verlassen des Landes ihre Gültigkeit. Das verhinderte eine Rückkehr. Als Staatsangehörigkeit wurde in den Dokumenten oft „ungeklärt", staatenlos oder „libanesisch" eingetragen. Hieraus erklären sich die entsprechenden Angaben zur Herkunft bis zum heutigen Tage. Die ungeklärte Staatsangehörigkeit hat einen entscheidenden Vorteil: Selbst wenn in Deutschland der Asylantrag abgelehnt wird - und das war überwiegend der Fall -, konnten auch Schwerkriminelle nicht abgeschoben werden, denn dazu muss gesichert sein, in welches Land die Abschiebung zu erfolgen hat.

Viele der heutigen angeblich arabischen Großfamilien sind unter Verwendung der „Laisserpasser"-Papiere nach Deutschland gekommen. Etliche besaßen auch gar keine Personaldokumente. Der juristische Ablauf gestaltet sich im Anschluss an das erfolglose Asylverfahren gleichbleibend wie folgt: Die Familienangehörigen erhalten zunächst den ausländerrechtlichen Status der Duldung. Es gibt Menschen, die seit vielen Jahren mit „Kettenduldungen" hier leben. Dieser Zustand hat in der Tat eine unerträgliche Folge: Er ist mit dem Verbot verbunden, eine Arbeit aufzunehmen. Dies stellt ein Versäumnis der deutschen Politik dar, das mir immer unbegreiflich war: Entweder hätte man mit dem Libanon oder der Türkei die Modalitäten der Rückkehr dieser Familien in das Herkunftsland klaren müssen, wenn sie dort offensichtlich nicht politisch verfolgt wurden, was aus dem abgelehnten Asylantrag ersichtlich ist, oder man hätte die Zuwanderer konsequent aufnehmen und ihnen dann jedoch gestatten sollen, einer Arbeit nachzugehen. In gewisser Weise erfolgte eine Entschärfung der Situation durch die sogenannten „Altfallregelungen" aus den Jahren 1987 und 1989, die den „Palästinensern" zum Teil die Erlangung einer Aufenthaltserlaubnis ermöglichten. Laut der angesprochenen Studie des LKA waren im Übrigen bereits im Jahr 2003 etwa 40 Prozent dieser Bevölkerungsgruppe eingebürgert und damit „Deutsche". Inzwischen dürfte sich dieser Prozentsatz weiter erhöht haben. Meinen Erkenntnissen zufolge verfügen viele Familien zumindest über einen gesicherten Aufenthaltsstatus. Sie dürfen arbeiten. Das Argument, dass die Einwanderer aus dem Libanon in Deutschland an ihrer Integration gehindert werden, weil ihnen das Arbeiten durch die „Duldung" verboten wird, entpuppt sich dementsprechend zunehmend als zeitlich überholt. Auch handelt es sich bei den „Staatenlosen" nicht immer um Menschen aus Flüchtlingslagern, die dort unter menschenunwürdigen Lebensbedingungen lebten und Kriegstraumata erlitten haben.

Die besagten Familien haben sich auf bestimmte Regionen in Deutschland verteilt. Man findet sie vor allem im Ruhrgebiet, in Bremen/Bremerhaven und in Berlin. Sie sind miteinander verwandt und leben ausschließlich nach ihren Gesetzen. Nach den mir vorliegenden Erkenntnissen gibt es in Deutschland zehn bis zwölf dieser Clans, die einige tausend Menschen umfassen. Sie agieren sowohl im Innen- wie im Außenverhältnis kriminell.

 

Wo gar nichts mehr geht

Das System: Ein typischerweise zunächst aus Mutter, Vater und zehn bis fünfzehn, in Einzelfällen bis zu neunzehn Kindern bestehender Clan wandert aus dem Libanon zu. Einige Kinder werden noch in der „Heimat" geboren, andere in Deutschland. Bevor die Mütter das letzte eigene Kind gebären, haben sie bereits Enkelkinder. Deshalb vergrößert sich ein Clan in atemberaubender Geschwindigkeit. Als Staatsangehörigkeit der Familien taucht in amtlichen Papieren aus den besagten Gründen „staatenlos", „ungeklärt", „libanesisch" oder zunehmend auch „deutsch" auf. Man lebt von staatlichen Transferleistungen und dem Kindergeld. Das verwundert im Vergleich zu anderen ALG-2-Empfängern, denn der Lebensstil der Clans kann ohne Übertreibung als aufwendig bezeichnet werden. Das mag daran liegen, dass speziell die Männer unzählige Straftaten begehen. Eine Großfamilie bringt es ohne Probleme auf Hunderte polizeilicher Ermittlungsverfahren. Die Anzahl der Familienangehörigen reduziert sich zwischenzeitlich unfreiwillig. Wenn die Drogen- oder sonstigen illegalen Geschäfte von einem rivalisierenden Clan oder gar von Banden mit einem anderen ethnischen Hintergrund gestört werden, wird das Problem gelöst, indem man einander tötet oder dies zumindest versucht. Ähnlich verhält es sich, wenn es um Schwierigkeiten mit weiblichen Familienangehörigen geht. Diese Problemlösungsstrategien wurden bereits vor etwa zwanzig Jahren beobachtet. Sie haben sich bis zum heutigen Tage nicht verändert.

- Im Januar 1992 beschießen sich in einem noch nicht eröffneten Lokal in Berlin-Kreuzberg Mitglieder der Großfamilien A. und B. Bei der Auseinandersetzung wird die gesamte Einrichtung zerstört. Durch Schüsse und Messerstiche werden mehrere Personen verletzt. Als die Polizei erscheint, versuchen alle Beteiligten sich zu verstecken. Die Auseinandersetzung drehte sich mutmaßlich um 4 kg Kokain.

- Zwei männliche Mitglieder der „arabischen" Familie C. betreten im Oktober 1992 mit einer Pumpgun bewaffnet ein jugoslawisches Restaurant und richten einen Mazedonier mit fünf Schüssen hin. Im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen werden größere Mengen Heroin und gesiegelte libanesische Blanko-Geburtsurkunden sichergestellt.

Im Jahr 1995 erkennen mehrere Palästinenser, darunter der Deutsche S. und sein Bruder T., einen Mann als Täter einer zuvor begangenen Körperverletzung wieder und stellen ihn zur Rede. Es kommt zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung, an der sich am Ende 20-30 Personen beteiligen und in deren Verlauf ein Mitglied der Familie Z., das bis dahin eine bedeutende Rolle in der kurdisch-libanesischen Szene Berlins gespielt hatte, von S. erschossen wird.

Nachdem im zuvor geschilderten Fall eine Entschädigungszahlung seitens des Clans des S. an die Familie des Erschossenen wegen Zahlungsunfähigkeit scheitert, wird S. auf einer Tankstelle von den Brüdern des getöteten Angehörigen der Familie Z. mit 24 Schüssen hingerichtet.

In einer anderen „geschäftlichen Angelegenheit" weigert sich der türkische Betreiber eines Cafes im Jahr 1997, sein Lokal von der Familie A. übernehmen zu lassen. Das Cafe soll wohl zur Abwicklung von Drogengeschäften genutzt werden. Daraufhin stürmen vier 15 (!) bis 25 Jahre alte Söhne des Familienoberhauptes des Clans A. das Restaurant und feuern u.a. mit einer Maschinenpistole wahllos in den Räumlichkeiten herum, in denen sich Menschen befinden.

Im Oktober 2001 kommt es zwischen zwei Familienoberhäuptern der A.s und B.s zunächst zu Verhandlungen über die Scheidung von zwei nach islamischem Recht verheirateten Töchtern der Familie A. mit zwei Söhnen der Familie B. Es geht u.a. um die Rückgabe der Mitgift. Die Situation eskaliert und ein Mitglied des A.-Clans wird durch eine Stichverletzung lebensgefährlich verletzt. Der Täter (übrigens deutscher Staatsangehörigkeit) aus der Familie B. wird zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Das ist sehr selten, denn meistens wird in diesen Fällen ein sogenannter „Friedensrichter" eingeschaltet, der die „Ausgleichszahlung" verhandelt. Vor den deutschen Behörden wird dann oft nicht mehr ausgesagt.

Zusätzlich finden sogenannte „Ehrenmorde" statt, wenn ein weibliches Familienmitglied aus der Hierarchie ausbrechen will oder sich schlicht nicht normkonform im Sinne der archaischen Clanstruktur verhält. Dann ist damit zu rechnen, dass ein Bruder seine eigene Schwester niedermetzelt. In der Familie und in der Community wird er als Held gefeiert.

Insgesamt ergibt die strafrechtliche Gesamtbetrachtung einiger Clans, dass die weiblichen Familienangehörigen vorwiegend stehlen und die männlichen Straftaten aus allen Bereichen des Strafgesetzbuches begehen: Von Drogen- und Eigentumsdelikten über Beleidigung, Bedrohung, Raub, Erpressung, gefahrliche Körperverletzung, Sexualstraftaten und Zuhälterei bis zum Mord ist alles vertreten. Die Kinder wachsen weitgehend unkontrolliert in diesen kriminellen Strukturen auf. Auch sie begehen deshalb oft von Kindesbeinen an Straftaten.

Der Staat kommt an diese Familien nicht heran. Die Jugendämter sind hoffnungslos überfordert, wenn sie wieder einmal auf eine Vereinbarungsfahigkeit der Eltern hoffen. Die amtlichen Bemühungen lassen sich dabei nie lückenlos nachvollziehen, da die Akten der Ämter nicht „mit dem Clan mitwandern", wenn dieser auch nur innerhalb einer Stadt umzieht. Dabei geht aus amtlichen Einschätzungen hervor, die Eltern seien in ihrem Selbst- und Alltagsverständnis weit von den deutschen Realitäten entfernt. Eine Unterstützung oder Erziehung hin zur Integration oder Förderung der Kinder liege außerhalb ihrer Möglichkeiten. Ausgeprägt sei bei den männlichen Familienmitgliedern eine massive Gewaltbereitschaft, die auch innerfamiliär, das heißt von den Männern gegenüber den Frauen, ausgelebt werde. Es existieren nach meinem Wissen jedoch diesbezüglich kaum Ermittlungsverfahren. Das ist auch nicht verwunderlich, denn die Wahrung der „Familienehre" nach außen folgt einem ungeschriebenen, aber wirksamen Kodex. Wer die eigenen Leute an die „Deutschen" verrät, riskiert sein Leben. Also bieten die hilflosen Ämter fortlaufend weitere Erziehungshilfen unterschiedlichster freier Träger der Jugendhilfe an. Der Erfolg ist meist gleich null. Dafür reifen die Jungen zu ganzen Männern im Sinne ihres archaischen Verständnisses heran. Ein Sohn einer Großfamilie zertrümmert beispielsweise noch als Kind seiner Lehrerin das Gesicht, ein anderer schlägt mit elf Jahren auf einem Volksfest eine behinderte junge Frau krankenhausreif. Die Eltern reagieren darauf nicht erkennbar. Sie haben ihren Kindern diese Verhaltensweisen ja auch meist vorgelebt. Mit dem einen Kind passiert staatlicherseits nichts Erwähnenswertes, das andere kommt mit Zustimmung der Eltern in eine Jugendhilfeeinrichtung in einem anderen Bundesland. Da die Eltern der Unterbringung zugestimmt haben, wird von einem Sorgerechtsverfahren wieder einmal Abstand genommen. Unter den stark eingegrenzten Heimbedingungen entwickelt sich das Kind positiv. Gleichwohl wird die Maßnahme vorzeitig beendet. Das Amt beugt sich dem Druck der Familie. Der Junge kehrt bald nach Berlin zurück. Die Kinder aus „palästinensischen" Clans nehmen dann eine Entwicklung, die sich vergleichbar gestaltet. Sie haben gelernt, dass es für sie keine Grenzen gibt, und terrorisieren zunehmend ihr gesamtes außerfamiliäres Umfeld. Da sie in ihrer Wohngegend und in den Schulen bekannt sind, funktioniert das bestens, denn alle wissen, dass hinter einem zehnjährigen „Mitschüler" eine gewaltbereite Großfamilie stehen kann, die ihre eigenen Interessen rücksichtslos durchsetzt. Inzwischen reicht es aus, wenn die Kinder in der Schule verlauten lassen, dass sie zur Familie XY gehören. Dann geben alle Schüler „freiwillig" ihre Pausenbrote und Trinkflaschen, Stifte, Hefte und Euros ab.

Die Jugendämter haben neben eigenen Bemühungen, mit den „arabischen" Clans fertig zu werden, auch versucht, Projekte einzurichten, die Mitarbeiter mit demselben ethnischen Hintergrund beschäftigen. Diese werden seitens der Großfamilie nur so lange „akzeptiert", wie sie den Eindruck hat, einen Interessenvertreter gefunden zu haben. Die „Brückenbauer" zwischen den Welten sind spätestens dann höchster Gefahr ausgesetzt, wenn sie mit den deutschen Behörden kooperieren.

Ich habe die Bemühungen der beteiligten Institutionen um diese Familien mit steigender Fassungslosigkeit zur Kenntnis genommen. Die Aufzählung und Bewertung der Maßnahmen würde es ohne

Weiteres ermöglichen, hierüber ein gesondertes Buch zu schreiben. Zum Schutze der Mitarbeiter der Projekte, Initiativen und Jugendämter, die mit „arabischen" Großfamilien arbeiten müssen und von diesen teilweise ernsthaft bedroht werden, unterlasse ich hier die Schilderung genauerer Einzelheiten. Man mag mir aber Glauben schenken: Der überwiegende Teil dieser Clans wird niemals in Westeuropa ankommen. Es werden weiterhin nicht genau bezifferbare Millionenbeträge in die Alimentierung dieser Gruppierungen fließen, ohne Fortschritte zu erzielen. Inzwischen haben sie es allerdings teilweise so weit gebracht, dass die ersten Familienmitglieder es nicht mehr nötig haben, selbst Straftaten zu begehen. Das „erwirtschaftete" Vermögen wird in Immobiliengeschäfte und eigene Läden investiert. Aber auch im Rotlichtmilieu finden sich „halblegale" Betätigungsfelder.

Ich selbst habe mich im Interesse der Kinder ausführlich mit einzelnen Familien beschäftigt und aus Anlass von Strafverfahren die Probleme beim Familiengericht vorgetragen, wo sie seit mindestens zwanzig Jahren hingehört hätten. Niemand hat jedoch bisher diesen Weg beschritten und es liegt auch auf der Hand, weshalb: sozialromantische Verblendung gepaart mit blanker Angst. Ich bin inzwischen zu der Auffassung gelangt, dass die Furcht vor den kriminellen Großfamilien alle anderen Aspekte bei Weitem überwiegt, denn hinter vorgehaltener Hand heißt es: „Man kann kein Kind zwangsweise aus einem arabischen Clan nehmen. Die Familien erschießen jeden, der das versuchen sollte." Angst ist aber ein schlechter Ratgeber. Sie lähmt das System und den Einzelnen. Deshalb müssen wir sie überwinden und handeln.

Die Möglichkeit, aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegenüber kriminellen arabischen Großfamilien durchzusetzen, stößt gegenwärtig auf die schon benannten Hindernisse. Sie wurde darüber hinaus auch in gewisser Weise vertan, weil die beispielsweise bei der Berliner Polizei Ende der 90er Jahre eingerichtete gemeinsame Ermittlungsgruppe „Identität" - kurz „GE Ident" -, die sich mit betrügerisch erlangten Aufenthaltstiteln und Sozialleistungen befasste, inzwischen ihre Arbeit einstellen musste - obwohl sie erreichte, dass mehr als 400 Personen freiwillig ausreisten oder abgeschoben wurden, nachdem ihnen ihre meist kurdische Herkunft nachgewiesen werden konnte. Die Gründe für die Auflösung dieser polizeilichen Einheit sind mir nicht bekannt. Sie dürften aber politischer Natur sein. Abgesehen davon hatte die Türkei inzwischen vielleicht Bedenken, dass die kurdischen „Libanesen" im Falle des Nachweises ihrer eigentlichen Herkunft von Deutschland auch in die Türkei „zurückgeschoben" werden könnten. Vielleicht hat das Land deshalb viele dieser Menschen kurzerhand ausgebürgert. Das wäre eine gleichermaßen fragwürdige wie effektive Methode, sich die Probleme vom Hals zu schaffen.

Die Idee einer Rückkehr der Familien in ihre „Heimat" stellt aus meiner Sicht momentan „ein totes Gleis" dar, da deren Kinder zum Teil schon in der zweiten bis dritten Generation in Deutschland leben und dementsprechend ihre Heimat auch hier haben. Dennoch sehe ich es als unerlässlich an, auf sämtlichen Ebenen zu prüfen, welche Maßnahmen wir den Clans entgegensetzen können. Dazu gehören alle beteiligten Institutionen an einen Tisch, wobei ich empfehle, die Verantwortlichen anderer betroffener Städte wie z. B. aus dem Ruhrgebiet sowie aus Bremen/Bremerhaven gleich hinzuzuziehen. Sämtliche vorhandenen Daten sind offenzulegen, damit endlich ein vollständiges Bild entsteht. Dem zu erwartenden Gegenargument, datenschutzrechtliche Bedenken könnten dieser Vorgehensweise im Wege stehen, halte ich entgegen, dass Datenschutz nicht dem Täterschutz dienen darf. Wenn der deutsche Staat diese Familien weiterhin im Land belässt und sie jahrzehntelang ohne jede Gegenleistung unterstützt, obwohl sie die Gesellschaft hemmungslos schädigen, blamiert er sich aufs Äußerste und lädt zur Nachahmung ein. Ich gebe auch zu bedenken, dass wir gegenwärtig das Heranwachsen von Kindern unter kriminogenen Entwicklungsbedingungen gestatten, obwohl es unsere Pflicht wäre, diese Kinder vor ihren Eltern und älteren Geschwistern zu schützen. Auch hätte die Devise „Kinderschutz vor Datenschutz" zu gelten. Darüber hinaus bin ich davon überzeugt, dass es einzelne Mitglieder der Familien schaffen könnten, sich in eine andere Richtung zu entwickeln, oder dies zumindest gern wollen. Deshalb würde ich diesen Menschen Hilfe anbieten, wenn sie sich entsprechend äußern: eine Art Ausstiegsprogramm aus dem Kriminalitätsstrudel, in dem sie sich notgedrungen befinden.

Nach meiner Einschätzung wird momentan zugesehen, wie die „arabische" Drogenmafia, die den Erkenntnissen der Polizei und der Staatsanwaltschaft zufolge speziell den Handel mit harten Drogen (wie z. B. Heroin) fest in der Hand hat, aus palästinensischen Flüchtlingslagern Kinder und Jugendliche nach Deutschland schleust. Die manchmal sicher völlig Ahnungslosen sollen dann den Straßenverkauf der Drogen übernehmen. Die Lebensgeschichte, die den Eingeschleusten von den Verbrechern, die diese Menschen unter falschen Versprechungen ins Land bringen, eingetrichtert wird, damit sie zunächst einmal Aufnahme in Deutschland finden, lautet häufig folgendermaßen: Die Eltern sind verstorben. Das Kind wächst bei Verwandten auf. Die wollen ihm ein besseres Leben ermöglichen und wenden dann das letzte Hab und Gut auf, um die Reise nach Deutschland zu finanzieren. Hier angekommen, möchte man dann gerne zur Schule gehen, Deutsch lernen und einen anständigen Beruf ergreifen. Ich bin überzeugt davon, dass manche junge Menschen sich tatsächlich in diesem Irrglauben auf den Weg machen, nur denke ich nicht, dass die Geschichten ansonsten stimmen. Dafür sind sie zu schablonenhaft.

Die Realität der Angeklagten sieht nach Auskunft einiger Betroffener so aus, dass sie in Beirut in ein Flugzeug nach Deutschland gesetzt werden und sich dann bei der Einreise an die Beamten, die die Pässe kontrollieren, wenden, um kundzutun, sie seien unbegleitete Jugendliche, die um Asyl bitten. Die libanesischen Jugendlichen müssen nach meinem Kenntnisstand ihre Dokumente nach Besteigen des Flugzeuges beim Schleuser abgeben. Der fliegt nämlich nach Angaben von Jugendlichen, die auf diese Weise nach Deutschland gekommen sind, mit und sammelt im Flugzeug die Pässe ein. Die „unbegleitet reisenden asylsuchenden Jugendlichen", die häufig deutlich älter sind, als sie angeben, werden dann einem entsprechenden Heim zugewiesen, in dem sie sich dem ausländerrechtlichen

Status der Duldung entsprechend eigentlich ständig aufhalten müssen. Machen sie aber nicht. Stattdessen tauchen sie rasch bei Landsleuten in Berlin unter. Diese machen sie dann vermutlich auch mit den Regeln des jeweiligen Marktes vertraut: wer wo was und für wie viel verkaufen darf, wo man die Ware erhält, wer den Erlös bekommt. Selbst davon profitieren können die Straßenhändler nicht. Sie müssen ganz im Gegenteil für die Schleusung noch bezahlen, denn die Geschichte mit den Verwandten, die die „Reise" angeblich bezahlt haben, ist eben unwahr.

Ich habe kürzlich in Heimen der Jugendhilfe in anderen Bundesländern angerufen, weil mir auffiel, dass ich mehrmals Jugendliche wegen Heroinhandels verurteilt hatte, die sich eigentlich in diesen Einrichtungen weitab von Berlin aufhalten sollten. Die Mitarbeiter erklärten mir, dass man die Jugendlichen, die sich entfernen, als vermisst meldet - und das war es dann. Ihre Einrichtung selbst sei im Übrigen offen. Jeder könne kommen und gehen, wann er wolle. Wenn die Bewohner älter als 16 Jahre alt seien und nicht mitwirkten, um z. B. Deutsch zu lernen, kämen sie in eine Einrichtung für erwachsene Asylbewerber, und falls sie dort abgängig seien, dann sei das eben so. Da gebe es dann nicht einmal eine Vermisstenmeldung. Eine andere Recherche ergab, dass ein angeblich Jugendlicher in einem Heim als Bewohner registriert war, was die entsprechenden Kosten auslösen dürfte, aber allenfalls mal auftauchte, wenn es „Taschengeld" gab. Der Mitarbeiter dieser Einrichtung ging mit diesem Umstand ganz gelassen um. Das hat mich verwundert. Die jungen Männer haben eine klare Zuweisung, an die sie sich ohne Eintritt von Folgen nicht halten. Und das auch noch auf Kosten der Staatskasse, die zusätzlich belastet wird, wenn die Dealer in Berlin aufkreuzen, hier mit Heroin handeln, erwischt und in Haft genommen werden - wobei dies nicht zwangsläufig geschieht, denn sie sind ja in der Lage, einen festen Wohnsitz im Heim nachzuweisen, wo sie länger polizeilich gemeldet als tatsächlich anwesend sind. Inzwischen sind wir Richter und Staatsanwälte aber auch in der Realität angekommen, und häufig ergehen in diesen Fällen Haftbefehle.

Welche pädagogisch sinnvolle Maßnahme soll in diesen Fällen verhängt werden? Sich in die Einrichtung zurückzubegeben und an einem Deutschkurs teilzunehmen? Oft verhängen die Jugendrichter Arreste, auf die dann die bis zur Hauptverhandlung erlittene - so heißt das im Juristendeutsch - Untersuchungshaft angerechnet wird. Man hofft, der Jugendliche werde durch das Erlebnis der Haft von weiteren Taten abgehalten. Ist das realistisch? Man bedenke die gesamte Vorgeschichte. In Fällen, in denen der Jugendliche mehrmals oder in größeren Mengen mit Heroin gehandelt hat, werden zunehmend Jugendstrafen verhängt. Die Vollstreckung wird bei einem „Ersttäter" im Regelfall zur Bewährung ausgesetzt. Beim nächsten Deal, der auffliegt, folgt dann eine entsprechend lange Inhaftierung. Das ist nicht gerade das, was der Junge aus dem Libanon sich erhofft hat, und auch nicht das, was der Jugendrichter sich von seinem pädagogischen Auftrag verspricht. Der neueste Trend der Banden ist übrigens, unter 14-Jährige heranzuschaffen. Das hat den besonderen Charme der nicht drohenden Bestrafung. Im Juli 2009 wird in Berlin ein zwölfjähriger staatenloser palästinensischer Junge mit 150 abgepackten Portionseinheiten Heroin festgenommen. Der kann nun endgültig gar nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden. Nahezu stereotyp taucht dann in den Medien die Frage auf, ob wir denn nicht die Strafmündigkeitsgrenze auf zwölf Jahre heruntersetzen sollten. Dazu kann ich nur sagen: Bitte nicht! Denn dann werden demnächst Zehnjährige geholt.

Ich vertrete seit vielen Jahren immer wieder die Meinung, dass wir um die Einrichtung geschlossener Unterbringungsmöglichkeiten nicht herumkommen. Alles andere ist pseudoliberale Heuchelei, die vor lauter Ideologie den Blick auf die Lebenswirklichkeit verstellt. Wenn Kinder und Jugendliche in dieses Land geschleust werden, um hier Straftaten zu begehen, kann man dies nur wirksam bekämpfen, indem man die Möglichkeit verstellt, die Menschen so einzusetzen, wie es geplant ist: Der Bewegungsradius muss deshalb begrenzt werden. Sicher ist das ein harter Einschnitt und nur vertretbar, wenn die Einzelfallprüfung entsprechende Anhaltspunkte für die dargestellten Absichten ergibt. Kommen - wie momentan - Kinder aus Afrika oder dem Iran, die über das Mittelmeer vor Hunger und Hitze geflüchtet sind oder dem Terrorregime Ahmadinedschads entkommen wollen, sind diese Entscheidungen selbstverständlich anders zu treffen. Aber pauschal alle gleich zu behandeln und damit der Drogenmafia das Geldverdienen zu erleichtern, erscheint mir nicht ratsam. Es ist engmaschig zu kontrollieren, was mit den Kindern und Jugendlichen geschieht, wenn man schon nicht in der Lage ist, ihre Einreise zu verhindern, indem man sich damit beschäftigt, wer sie ins Land holt. Wenn aus einer libanesischen Maschine aus Beirut „unbegleitete Jugendliche" steigen, die keinen Pass mehr bei sich führen, muss es möglich sein, deren Identität umgehend zu klären, denn in Beirut werden die jungen Menschen vermutlich mit einem Pass die dortigen Kontrollen passieren. Wäre dies nicht der Fall, bedeutete dies, dass der Libanon die illegale Einreise unterstützt. Darüber wäre dann wohl auf diplomatischer Ebene zu reden. Es ist auch zu überlegen, ob die Möglichkeit, sich während des Fluges des Passes zu entledigen, ausgeschaltet wird, indem die Flugbegleiter die Reiseunterlagen der Jugendlichen an sich nehmen und den deutschen Behörden aushändigen. Oder aber man setzt deutsche Beamte in die Flugzeuge, die bereits während des Fluges die Dokumente überprüfen.

Es gibt nur diese zwei Möglichkeiten: Entweder man nimmt all diese Kinder und Jugendlichen ohne Ansehen ihrer Herkunft und ihres mutmaßlichen Einreisegrundes auf. Dann ist der Staat aber auch verpflichtet, sie den „arabischen" Banden zu entziehen, denn ansonsten blüht die entsprechende Kriminalität und die eingeschleusten Menschen bleiben auf der Strecke. Oder man kontrolliert die Einreise konsequenter. Was gegenwärtig geschieht, ist, wie in so vielen Bereichen, blankes Wegsehen und Herumlavieren. Nur nebenbei sei angemerkt, dass die vietnamesische Zigarettenmafia mit den jugendlichen Straßenverkäufern unverzollter Zigaretten identisch verfährt.

 

 

Das Ende der Geduld
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